7. April 2023

Ich lese gerne. Im Laufe meines Lebens ist die Zahl der Bücher sehr angewachsen. Doch gibt es da noch ein Buch, das nicht in meinen Bücherregalen steht. Es ist mir so wichtig geworden, dass ich nicht darauf verzichten kann, so dass ich täglich zumindest mit den Augen „zugreife“. Ich verstehe es als das „gelehrteste Buch“. Dem heiligen Pfarrer von Ars wird das Wort zugeschrieben: „Das Kreuz ist das gelehrteste Buch, das wir lesen können… Die wirklich Gelehrten sind nur die, die dieses Buch lieben, es um Rat fragen, es ergründen…“

„Ich kann es schon bald nicht mehr hören“, sagen mir manche, wenn von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch sogenannte „geistliche“ Menschen gesprochen wird. Ja, das ist schwer auszuhalten, wenn wir erfahren, wie überhaupt unschuldige Menschen unter vielfältiger und brutaler Anwendung von Gewalt „aufs Kreuz gelegt“ werden. In den weinenden Frauen am Wegesrand des kreuztragenden Jesus finde ich mich wieder. Jesus sagt -eher unerwartet- zu ihnen: „Weint nicht um mich, weint über euch und eure Kinder…“ (vgl. Lk 23, 27f.). Er weitet mir damit den Blick: Sein Kreuz als das gelehrteste Buch zu erfahren, das mir hilft hinzusehen, nicht die Augen zu verschließen. So beginne ich mit den Augen dessen zu sehen, der mit seinem Kreuz in dem Unerträglichen mitten drin ist. Und weiterhin erschließt sich mir damit in dem „gelehrtesten Buch“: Die Kirche Jesu Christi findet ihr Ansehen nicht im Ansehen der Institution Kirche oder im Ansehen von deren Amtsträgern, sondern im Ansehen des Kreuzes Jesu, in dem sich alle wiederfinden, denen man „das Kreuz gebrochen“ hat, die man „aufs Kreuz gelegt“ hat oder „zu Kreuze kriechen“ lässt, die sich im Fadenkreuz einer todbringenden Krankheit finden…

Allen wünsche ich die Erfahrung, die mir im Lesen des „gelehrtesten Buches“, im täglichen Blick auf das Kreuz Jesu geschenkt ist: Ermutigung zum Leben und -so glaube ich- auch Lebenshilfe im Sterben.

Gedanken von Domkapitular Prof. Dr. Lothar Wächter